Zu Rezension Nr.1 liegt eine Antwort des Autors vor.
"THE NUMBER OF PEOPLE IN THE
EXODUS FROM EGYPT: DECODING MATHEMATICALLY THE VERY LARGE NUMBERS IN NUMBERS
I AND XXVI"
by
COLIN J. HUMPHREYS, Cambridge
Vetus Testamentum 48 (1998) 196
- 213
Mit dem Artikel von Prof.
Colin J. Humphreys liegt ein weiterer Versuch vor, den Zahlen in Numeri
1 und 26 einen historischen Sinn zu unterlegen. Unter anderem bietet Humphreys
auch eine quantitative Analyse der Verteilungsstruktur dieser Zahlen, ohne
aber ihrer Entstehung eine spezielle Absicht zu unterstellen. Letztlich
stellt sein Artikel eine Variante zum Ansatz von Mendenhall
dar, allerdings mit pfiffiger mathematischer Argumentation und mit Bezug
der Numeri-Zahlen auf die Zeit des Exodus, statt auf die Zeit der Könige.
Humphreys' Beitrag zeichnet sich dadurch aus, daß er mit Hilfe einiger Zusatz-Annahmen mathematische Gleichungen aufstellt, die es erlauben sollen, die wahre Größe der Stämme Israels zum Zeitpunkt des Exodus abzuschätzen sowie die Plausibilität bereits vorliegender Interpretationen der Numeri-Zahlen zu überprüfen. Im folgenden werde ich nicht seinen Artikel referieren (Sie haben ihn vor sich liegen), sondern nur einige ausgewählte Punkte kritisch beleuchten: |
A) Die Grundannahme
B) Ist die Zahl 273 'likely to be correct' ? C) Ist die vorgeschlagene Deutung der Zahlen konsistent mit der Zählung der dienenden Leviten (Num. 4)? D) Statistische Auffälligkeiten E) Abstract A) Die Grundannahme
Humphreys' grundlegende Annahme besteht darin, daß ein Schreiber (mehrere Schreiber?) beim Kopieren des Numeri-Textes das hebräische Wort 'lp an einigen Stellen falsch verstanden hat, nämlich in der Bedeutung 'tausend' anstatt in der Bedeutung 'Trupp'. Dementsprechend habe der (die?) Schreiber den Text an den über 40 Numeri-Stellen, die davon betroffen sind, im Sinne seines Mißverständnisses uminterpretiert und an den notwendigen Stellen abgeändert. Humphreys begründet die Notwendigkeit dieser Änderungen mit Bezug auf einen hypothetischen Vorläufertext. In diesem habe das Wort 'lp bei großen zusammengesetzten Zahlwortkombinationen direkt nebeneinander die beiden verschiedenen Bedeutungen 'tausend' und 'Trupp' gehabt. (S.206/7) |
Den Fehler des antiken Schreibers versucht Humphreys
mit angeblich ähnlichen Fehlern bei heutigen Bibelübersetzungen
zu erklären: "If bible
translators can misinterpret 'lp as 'thousand' (...) when 'clan' is intended
(...), there is clearly scope for a scribe copying an early Hebrew text
to interpret 'lp as 'thousand' (...) when 'troop' was intended."
(S.200u.)
Diese Logik muß allerdings genau umgekehrt werden: Wenn schon damalige Schreiber so einen Fehler machten, dann erst recht heutige Übersetzer, denn es ist klar, daß die damaligen hebräischen Muttersprachler den Text weit besser verstanden, als Jahrtausende später lebende Übersetzer. Damit nützt das Argument aber nicht mehr, um die Annahme plausibel zu machen, daß die Schreiber damals überhaupt einen solchen Fehler machten. Es bleibt also die Frage offen, ob sie diesen Fehler machten, und diese Problematik soll jetzt präzisiert werden. Wie haben wir uns die Entstehung des Fehlers vorzustellen? |
1) War es ein einzelner Schreiber, der, isoliert von allen anderen,
einsam und allein die einzige Kopie herstellte, sozusagen die Mutter aller
Kopien, die überhaupt auf uns gekommen sind und alle die gleiche (angeblich
falsche) Interpretation des Wortes 'lp im Buch Numeri aufweisen?
2) Wenn ja, wie kam es zu seiner persönlichen resp. sprachlichen Isolation, so daß er vergaß, welche Bedeutungen das Wort 'lp annehmen kann und gleichzeitig eine Kopie mit der 'falschen' Schreibweise des Numeri-Textes erzeugte, die trotz seiner Isolation die gesamte weitere Textüberlieferung bestimmte ? Wenn nein, wie kam gar eine ganze Schreibergruppe in eine derartige Isolation von der Außenwelt? 3) Wie kam der Schreiber dazu, anzunehmen, daß allen seinen Vorgängern entgangen war, was ihm, dem allein übriggebliebenen Genius, erst jetzt wieder klar wurde: Daß nämlich die Schreibweise der Zahlen, die jeder Schreiber aus dem Handgelenk beherrschte, ausgerechnet im Buch der Zahlen falsch war und nun endlich korrigiert werden mußte? |
4) Warum hat er nicht gezögert und geprüft,
ob nicht die ihm (angeblich) vorliegende Schreibweise in sich selbst schlüssig
wäre, ergeben doch die von Humphreys rückgerechneten 'troops'-Anzahlen
in der Summe nicht zufällig genau 598 (Tabelle 2, S.212, entsprechend
korrekt die Summe der Männer) ? Wenn diese 598 so dagestanden hat,
wie Humphreys behauptet, wie kann es dem Schreiber entgangen sein, daß
dies genau die Summe der 'troops' ist?
5) Und wenn es ihm nicht entgangen war: Wie wahrscheinlich ist es, daß er, dem diese Sprache Muttersprache war, nicht auf dieselbe Idee kam, wie die Autoren heute ? 6) Ist es überhaupt möglich, die Zahlen so, wie Humphreys vorschlägt, zu konvertieren, ohne sie in ihrer ursprünglichen Bedeutung verstanden zu haben? Und wenn das nicht geht, der Schreiber sie also erst verstanden haben mußte, um sie zu konvertieren, warum sollte er sie dann überhaupt abändern? |
Zu der Grundannahme einer Fehlinterpretation des Wortes
'lp paßt eine Frage von Walter J. Houston (die sich im Original auf
die Verwendung poetischen Materials in biblischer Prosa bezog): "...are
the authors, as some have alleged, insensitive bunglars making a botch
of material they did not understand, or is it their critics who lack understanding?"
[In: "Misunderstanding or midrash? The prose appropriation of poetic material
in the Hebrew Bible (Part I)", ZAW 109 (1998) 342 - 355 (343).]
Beachten wir schließlich: Es geht nicht um eine gematrische, astronomisch/ astrologische oder ähnlich künstlich zugeordnete Spezialbedeutung der Zahlen, die tatsächlich leicht in Vergessenheit geraten kann. Es geht um die in täglichem Gebrauch stehende Semantik der Zahlwörter: Zu keiner Zeit dürfte es im alten Orient eine Phase gegeben haben, in der militärische Einheiten völlig abgeschafft gewesen wären. Also wurden auch die Bezeichnungen dieser Einheiten verwendet... und gleichzeitig vergessen ("forgotten", S.206) ? Die Grundannahme einer Fehlinterpretation des Zahlwortes 'lp durch einen Schreiber ist m.E. unbegründet. |
D.h. aber, bei der Differenzbildung 1273 - 1000 = 273
wird ein Fehler von mindestens plus / minus 100 gemacht und die Zahl 273
ist somit nicht genau, auch nicht 'likely
to be correct', sondern höchstwahrscheinlich falsch, in jedem Fall
aber unzuverlässig. Insbesondere eignet sie sich nicht als Dreh- und
Angelpunkt eines Gleichungssystems, das über die Interpretation fast
aller übrigen Zahlen des Numeri-Buches entscheiden soll.
Hier bietet es sich an, sogleich einen naheliegenden Lösungsvorschlag
zu diskutieren (Er findet sich im Artikel von Humphreys logischerweise
nicht, weil dort die Genauigkeit der Zahl 273 als gegeben vorausgesetzt
wird):
Das zugrundeliegende Problem geht aber noch erheblich tiefer. Die Rundungsungenauigkeit betrifft nämlich nicht nur die Anzahl der Leviten, sondern auch die Anzahl der über zwanzigjährigen Männer Israels, so daß wir uns fragen: Wie kommt es, daß die Zahl der Erstgeborenen Israels plötzlich um einen Faktor 100 bis 1000 genauer angegeben wurde ? Und weiter: Wie kann es sein, daß bei einer wirklichen Zählung die Anzahl der Trupps auf zwei Dezimalen genau angegeben wird (z.B. 46, 59, 45, 74, ...), die Gesamtzahl der wehrfähigen Männer aber regelmäßig mit nur einer Dezimalen Genauigkeit (z.B. 500, 300, 650, 600, ...) ? Selbst bei einer Schar von 500 berittenen Beduinen ist es relativ einfach, ihre Gesamtzahl wenigstens mit einer Auflösung (wenn auch nicht unbedingt mit einer Genauigkeit) von plus/minus 1 festzustellen, wenn sie z.B. in 50 Trupps militärisch zusammengefaßt sind. Warum wurde diese Information verworfen und gerundet? Eigentlich müßte diese Tatsache Humphreys von einer historischen Interpretation abgehalten haben, denn er vertritt ausdrücklich den Standpunkt: "The prime purpose of a census is to produce accurate numbers..." (S.199). Das ist bei einem Vorläufertext, wie er ihn sich vorstellt, nicht gegeben. Letztenendes ergibt eine Zählung von ca. 500 Menschen,
die keine Genauigkeit von nur wenigen Einheiten erreicht, überhaupt
keinen Sinn, denn auf plus/minus 100 läßt sich eine in 50 Gruppen
gegliederte Menge von 500 Menschen schätzen, eine Zählung
ist vollkommen überflüssig. Das bedeutet aber, daß die
von Mendenhall und Humphreys vorgeschlagene Lesart der Zahlen den Sinn
der Erzählung ad absurdum führt.
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Für die Kehatiter gilt: Selbst wenn wir die Lesart
600 (statt 300) vorziehen, sind die 750 diensttuenden Leviten mehr Männer,
als Kehat überhaupt zur Verfügung stellen kann. Dasselbe gilt
für Gerschon (630 aus 500). Für Merari (200 aus 200) müßte
man annehmen, daß alle männlichen Leviten zwischen 30 und 50
Jahre alt waren, was ebenfalls ausgeschlossen ist.
Es liegt also eine schwerwiegende Inkonsistenz vor. Kann sie behoben werden? Um den Ansatz von Mendenhall und Humphreys zu retten, müßten wir zunächst noch einen weiteren Kritikpunkt betrachten. Humphreys kümmert sich in seinem Aufsatz nicht um die Möglichkeit, daß die Anzahl der Männer auch für die einzelnen Stämme im ursprünglichen Text mehr als 1000 betragen haben könnte. Warum sollte z.B. für den Stamm Ruben gelten: 46 'lp und 500 Mann (7. 'The correct interpretation ...' , S. 206), warum nicht beispielsweise 45 'lp und 1500 Mann oder 44 'lp und 2500 Mann? Das hätte natürlich Auswirkungen auf die Truppstärke, die dadurch rapide ansteigen würde. Aber das wäre nicht unbedingt 'schlimm'. Man könnte dann aber annehmen, daß für die Levitenzählung in Kapitel 3 etwas Ähnliches gilt, wie z.B.: Kehatiter:
7 'lp und 1300 Mann
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Dann hätten wir Platz gewonnen, um die am Heiligtum dienenden Leviten 'unterzubringen'. Allerdings sieht das Ganze nun immer noch recht seltsam aus. Während bei Kehat 750 / 1300 = 58% der Männer Dienst tun, sind es bei Merari nur 200 / 1200 = 17%. Aber sei's drum: Nehmen wir an, auch das wäre korrekt, schließlich ist bei traditioneller Lesart das Zahlenverhältnis auch nicht restlos überzeugend (ein schlechtes Argument, ich weiß). Dann müssen wir uns weiter vorstellen, daß der Schreiber, der den hypothetischen Vorläufertext geändert haben soll, bei der Differenzbildung zwischen den Erstgeborenen und den Leviten statt 21 'lp und 1273 Mann für die Erstgeborenen 18 'lp und 4273 im Text stehen hatte, denn sonst kommt die Differenz 273 nicht heraus. Analog müßten nun für die einzelnen Stämme der Zählung in Kapitel 1 und 2 höhere Werte für die Anzahl der Männer angesetzt werden (entsprechend geringer die Anzahlen der Trupps), so daß deren Gesamtzahl ebenfalls um einen Faktor 4 größer wird. | Alle diese Zahlen müßte der Schreiber nach
Humphreys Theorie abgeändert haben, ohne sie zu verstehen, ja gerade
weil
er sie nicht verstanden hätte! Wie glaubhaft ist das? Bei fast allen
Zahlen steht nun das 'lp doppelt, da auch echte Tausender notiert werden
müssen. In Kapitel zwei müssen in den Summen für die 4 Lager
meist mehrere Tausender notiert werden, ähnlich wie Humphreys es bereits
für die Gesamtsumme (603.550 = 598 'lp und 5 'lp und 550 Mann, S.207)
vorsieht. Im Beispiel könnte das für das Ostlager so aussehen:
Juda:
73 'lp und 1 'lp + 600 Mann
Diese Summe wiederum wäre mit den drei anderen Summen zur Gesamtsumme zu addieren. Und der Schreiber sollte dabei nicht bemerkt haben, was hier vor sich geht? |
Ich meine, daß auch dieses ad hoc zur Rettung der
Hypothese von Mendenhall und Humphreys konstruierte Beispiel gescheitert
ist und daß es überhaupt zwecklos ist, weiter nach einer historischen
Interpretation zu fahnden. Man könnte noch viele Fragen diskutieren,
wie etwa:
Zumindest die letztgenannte Frage soll noch andiskutiert werden: |
D) Statistische
Auffälligkeiten
Nur sehr kurz möchte ich auf statistische Eigenarten der Numeri-Zahlen zu sprechen kommen, da dieses Phänomen in meinem Artikel ausführlich abgehandelt wird. Es gibt mehrere statistische Phänomene,
die von jeder Interpretation der Numeri-Zahlen erklärt werden müssen.
Dazu gehören u.a.:
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Diese Charakteristika
müssen statistisch bewertet und, wenn möglich, zur Interpretation
der Zahlen herangezogen werden. Ein historischer Auslegungsansatz, der
die Zahlen als Ergebnis einer wirklichen Zählung auffaßt, kann
das nicht leisten. Schon eine einfache Betrachtung der Verteilung der Dezimalziffern
macht deutlich, daß die Zahlen keiner simplen 'Volkszählung'
entstammen. Man mache sich beispielsweise klar, daß die Ziffern
0, 1, 8 und 9 in der letzten signifikanten Dezimalen gar nicht auftauchen, und zwar weder in Num. 1 noch in Num. 26 . Das bedarf einer Erklärung, die aber durch den Ansatz von Mendenhall und Humphreys nicht geliefert wird. |
E) Abstract
(Rezension 1)
Prof. Colin J. Humphreys tried
to show "that if there were '273 first born Israelites who exceed the number
of Levites' (Num. iii 43), then the total number of Israelite men aged
over 20 in the census following the Exodus was about 5000, not 603,550
as apparently recorded in Numbers." (p.196) This attempt of a historical
interpretation of the numbers in Numbers implies a translation of the Hebrew
word 'lp as 'troops' instead of 'thousand', which must be rejected in this
case because of four main reasons:
|
Fortsetzungen werde ich ab sofort nur noch in Englisch schreiben, um der 'allgemeinen Internet-Öffentlichkeit' einen leichteren Zugang zu meinem Thema zu ermöglichen. Es wird kaum jemand Deutsch lernen wollen, nur um etwas über quantitative Strukturanalyse an biblischen Texten zu erfahren ;-) .
Was die vorliegende Rezension angeht, freue ich mich ganz besonders, daß der Autor des rezensierten Artikels, Professor Colin Humphreys, Cambridge, meine Einladung angenommen hat, einen eigenen Kommentar hierzu zu schreiben! Der Kommentar findet sich im Anschluß an die englische Übersetzung meiner Rezension.
Schöne Grüße
Rüdiger Heinzerling